Foto: Rainer Michels

Ingeborg Sahler-Fesel, Mitglied des Landtages

Volkstrauertag 2017
Gedenkstätte des ehemaligen KZ Hinzert
Ansprache zur Gedenkveranstaltung

Anrede

als ich, ein wenig kurzfristig, das Angebot bekommen habe, hier heute zu sprechen, gingen mir gerade eigentlich Jahres- und Gedenktage durch den Kopf, die mit dem mörderischen Unterdrückungsregime der Nazis weniger zu tun haben.

Und die dann doch wieder in ein Gesamtbild des 20. Jahrhunderts passen, das wenigstens in seiner ersten Hälfte, punktuell aber auch darüber hinaus, als ein Jahrhundert furchtbarer Gewalt und Menschenschinderei in die Geschichte eingegangen ist.

Ich gehöre zwar nicht zu denen, die zwischen den Folgen der vor genau 100 Jahren stattfindenden Russischen Oktoberrevolution und denen des aufkommenden Faschismus in West und Südeuropa – dessen barbarischste Spielart sicherlich der deutsche Nationalsozialismus war – allzu viel Identität sehen.

Auffällig ist aber schon, wie eine über Menschenleben millionenfach hinweggehende Grausamkeit sich fast flächendeckend ausbreitete, mit Lagersystemen, die allenthalben Vernichtung von Menschenleben und heute kaum mehr fassbares Elend erzeugten.

Jenseits der erheblichen Unterschiede auch zwischen den verschiedenen Spielarten des Faschismus erlebte die Menschheit eine wachsende Geringschätzung für den Wert des Lebens und für das Recht auf Unversehrtheit.

Was war da in den Köpfen der Menschen vor sich gegangen, das in einer ja doch ganz überwiegend christlichen Kultur einen solchen Verlust von Zivilisiertheit und einen solchen Verlust der zentralen christlichen Werte zuließ? Jedenfalls insoweit es neu-testamentarische Werte angeht.

Oft wird gerade in Bezug auf Deutschland auf den Status einer Kulturnation hingewiesen und die Frage gestellt: Wie konnte die Unmenschlichkeit, für die auch das Lager Hinzert stand, im Lande Goethes, Lessings und Schillers, im Land von Bach und Beethoven um sich greifen?

Und zwar ohne dass große Teile der Bevölkerung den Amokläufern in den Arm fielen!

Gerade der Nationalsozialismus unterschied sich ja entscheidend vom Totalitarismus sowjetischer Spielart dadurch, dass er auf ein doch recht ansehnliches Unterstützungs-Potenzial in der Gesellschaft zählen durfte.

Auch das dürfen wir nicht vergessen!

Und seien es auch die gewesen, denen die Barbarei solange egal war, wie sie selber nicht betroffen waren.

Weil sie nicht als Juden, Homosexuelle, Linke, sogenannte „Zigeuner“ und sogenanntes „unwertes Leben“ von Anbeginn an zu den Opfern dieses Regimes gehörten.

Man konnte dann nämlich noch eine ganze Weile ganz gut und weitgehend unbeeinträchtigt weiter leben, wenn man sich darum nicht kümmerte und den Mund hielt.

Wenn, ja wenn(!) einen das, was aus unseren buchstäblich Nächsten wurde, bestenfalls ein wenig schauderte, aber ansonsten kalt ließ.

Das waren dann die, die nach dem Krieg, nach der Befreiung Europas von der Pest dieser braunen Unmenschlichkeit, von mehr oder weniger „allem“ nichts gewusst hatten.

Jedenfalls behaupteten sie das.

Dabei geben uns heute unter anderem Tagebuchnotizen aus der Zeit zwischen 1933 und 45 sowie die Archive deutlich Aufschluss, dass man nur die Zeitungen lesen musste, um ein ziemlich präzises Bild zu bekommen von dem, was vor sich ging.

Durchaus, es fing – gemessen an dem, was dann ab dem 9. November 1938, dem Tag der Reichspogromnacht, und erst recht mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs entfesselt wurde – vergleichsweise(!) unspektakulär an. Wie gesagt – wenn man nicht gerade selber zu den Verfolgten gehörte, mit denen die Nazis – die großen und die kleinen – sehr schnell ihre Rechnungen beglichen.

Von diesen jedoch kamen auch zu diesem Zeitpunkt, 1933,  die ersten in den blitzschnell errichteten Lagern gar nicht mehr lebend an. Was angesichts eines ebenso schlagartig de facto außer Gefecht gesetzten Rechtsstaats dann meistens auch eher folgenlos blieb.

 

Anrede,

man muss sicher kein Historiker und keine Historikerin sein, um vor dem, was seit 1933 in Deutschland schlagartig möglich war, zu schaudern.

Ich selber bin ja Vertreterin einer Partei, die von den Nazis bereits wenige Monate nach deren Ermächtigung und der Bestallung Hitlers als Reichskanzler auch formal verboten wurde. Als „volks- und staatsfeindliche Organisation“: so hieß das damals, während die wahren Feinde des Staates die Regierung längst stellten.

Wer konnte, war da bereits ins Ausland geflohen; wem das nicht möglich war, der war in der Tat gut beraten, spätestens nach dem Ermächtigungsgesetz vom 22. März 1933 den Kopf einzuziehen.

 

Man stellt sich heute, wenn man nicht völlig geschichtsvergessen ist, ja schon gelegentlich die Frage: Wie hätte ich mich damals verhalten?

Es war sehr bald klar, dass in diesem Staat nicht nur die, die die Nazis unmittelbar als Feinde identifizierten, mit dem Schlimmsten zu rechnen hatten.

In dieser Hinsicht nun wieder dem Bolschewismus nicht unähnlich, mussten auch Familienangehörige mit schwerster Unterdrückung und Schikane rechnen.

Wer nicht um seiner selbst willen still hielt, der tat es vermutlich aus Angst um seine Kinder. Das war natürlich auch Teil des machtpolitischen Kalküls.

Und das machte – und macht – es auch so schwierig, über die Generationen der Deutschen, die dies zugelassen haben, pauschal zu urteilen. Ja selbst bei der Einzelbetrachtung ist manches Urteil – in der einen oder anderen Richtung – wohlfeil.

Dabei spreche ich natürlich nicht von den Tätern – und Täterinnen. Inzwischen ist ja auch die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus Gegenstand der historischen und gesellschaftswissenschaftlichen Analyse, mit bisweilen recht bemerkenswerten Ergebnissen.

 

Anrede

wenn wir uns heute diesem Thema immer noch stellen, dann vermutlich ja auch deswegen, weil es tatsächlich auch eine Menschheitsfrage ist: Wie verhalte ich mich, wenn ich in die Situation komme, in der meine Eltern und Großeltern sich plötzlich befanden – im Falle vieler hier sicher auch noch früherer Generationen ihrer Familien? Was tue ich dann?

Es ist sicher ratsam, einmal jede Romantik und alle heroischen Mystifizierungen dabei wegzulassen und sich in die tatsächliche Lage derer zu versetzen, die auch ihre Kinder und Enkel da durchbringen wollten.

Jenseits derer wiederum, die die Entwicklung mit herbei geführt hatten.

Jenseits des guten Drittels der Wählerinnen und Wähler, die – solange das Wählen noch möglich gewesen war – für die Nationalsozialisten gestimmt und so das mit herbeigeführt hatten, was dann in den kommenden 12 Jahren geschah.

Jenseits derer, die ihre Zeit gekommen sahen, sich an dem miesen, aber für viele einträglichen Spiel und an den Menschenjagden zu beteiligen; jenseits derer, die andere denunzierten oder selber die ersten Steine warfen, als sich die Gelegenheit ergab. Und die die Chance sahen, endlich selber die Erfahrung von Macht zu erleben, bis hin zu der vollständigen Machtausübung, die auch vor dem Leben anderer Menschen nicht mehr Halt machte.

 

Den Schrecken der ersten Tage zu Trotz war es in der Erfahrungswelt eher ein schleichender Prozess.

Die Brutalität nahm langsam zu, man gab den Unbeteiligten, die nicht Teil der Bewegung waren, Zeit. Zeit, sich an das Unrecht zu gewöhnen. Zeit auch, Ideologie und Propaganda langsam einwirken zu lassen. Zeit etwa, den Hass auf die Juden bei den vielen, die diese Propaganda nicht durchschauten, wachsen zu lassen.

Man denke nur an die Perfidie, mit der nicht nur über die NS-Presse und den Volksempfänger, sondern auch über Kinofilme und andere Kulturgüter die übelsten Ressentiments genährt wurden.

Diejenigen, die heute mit Abitur, womöglich einem Studium oder auch politischem Interesse ausgestattet wissen, dass sie so leicht nicht zu übertölpeln sind, dürfen nicht vergessen, dass Bildung damals ein (im Vergleich zu heute!) rares Gut war.

Auch die Charakterbildung!

Also: „Wie hätte ich mich verhalten?“

 

Wie verhalten wir uns heute? Ich will keine unzulässigen Vergleiche – geschweige denn Gleichsetzungen – vornehmen.

Auffällig war es natürlich, dass es schon bald nach 1945, unter der Besatzung durch die Alliierten, keine Mörder, Folterer, Schergen und Handlanger, ja nicht mal Antisemiten oder Rassisten mehr gab.

Na klar, unter der Hand, im vertrauten Kreis, gab man bisweilen zum Besten, was diese oder jene ja getan hatten, dass sie ihr Schicksal gewissermaßen selber heraufbeschworen hatten. Man tat das aber erklärend, legitimierend, und ein bisschen sogar entschuldigend. Weil: Niemand wollte schuld gewesen sein.

Für eine ganze Weile waren sie weg, die Rassisten; oder auch die Befürworter übelster Gewaltanwendung als staatlichem, ja rechtsstaatlichem Mittel.

Das waren sie natürlich nicht wirklich. Hin und wieder rutschte dem einen oder anderen im erregten Überschwang schon mal sowas heraus wie: „Unterm Führer hätten die das nicht gemacht“, „…wären die ganz schnell weg gewesen“ oder auch noch deutlicher.

Nicht erst zu Zeiten der Studentenbewegung der 1960er Jahre hörte man das, von dem einen oder der anderen.

Immerhin war es damals den Parteien – und zwar allen! – gelungen, diese Tendenzen einzubinden und auch einzuhegen.

Diese Fähigkeit, die man denen (auch uns!) natürlich auch zum Vorwurf machen konnte – und zum Vorwurf machte – ist offenbar heute verloren gegangen. Was, wie ich fest überzeugt bin, auch sehr viel mit einem Ideal politischer Reinheit zu tun hat, das wir seit zwei oder drei Jahrzehnten zunehmend pflegen.

Das ist keine speziell deutsche Entwicklung. Tatsächlich sehe ich angesichts politischer Veränderungen nicht nur in einigen europäischen Ländern, auch in den USA, auch auf den Philippinen, auch in Venezuela, der Türkei und auch Russland (die Liste lässt sich leicht fortsetzen) schon ein paar gute Gründe, darüber nachzudenken, wie man sich sinnvoller Weise dazu verhält.

Natürlich geht es für uns zuvorderst darum, wie wir uns zu Vorfällen im eigenen Land verhalten. Mit uns meine ich jetzt alle, die es ablehnen, die Menschheitsverbrechen gerade des auf deutschem Boden aufgekommenen Nationalsozialismus „endlich mal abzuhaken“.

 

Andererseits scheint es mir nicht die geringste und unbedeutendste Frage zu sein, wieweit wir möglicherweise alle nicht immer der Versuchung widerstehen, eigene Feindbilder aufzubauen und zu pflegen.

Was mir heute sehr wichtig ist, ist dass wir unseren liberalen, das heißt toleranten, und sozialen Rechtsstaat und unsere parlamentarische Demokratie unterstützen.

Das ist ein Anliegen, das in der Geschichte unseres Landes nach dem Krieg gerade für Linke auch nicht immer selbstverständlich gewesen ist!

Sie – Rechtsstaat, demokratische Institutionen, und besonders die Grundrechte in unserer Verfassung – sind die Bastionen, die standhalten müssen, wenn ein wütender Mob sich gerade mal wieder die Allerschwächsten herauspickt, um seine vermeintliche Macht zu demonstrieren.

Es sind unser Rechtsstaat und unsere Verfassung, hinter denen wir uns heute versammeln müssen, und entgegen den romantisierenden Feindbildern meiner eigenen Jugendzeit ist es auch die Polizei, die unserer Unterstützung braucht – ja, vereinzelt auch gegen fragwürdige Tendenzen in ihrer eigenen Binnenstruktur, wie uns der Fall Oury Yalloh nicht erst in der letzten Woche wieder in erschütternder Weise deutlich machte.

Insofern finde ich manche Verbindungen und Grenzüberschreitungen, die – übrigens nicht erst heute! – von weit links schneller als man manchmal schauen kann nach weit rechts führen, mindestens bemerkenswert.

Ich finde, solche seltsamen Erscheinungen müssen auch Anlass sein, darüber nachzudenken, was denen wirklich wertvoll sein muss, für die der Begriff Antifaschismus nicht nur ein modischer Anstecker ist. So wie für nicht ganz unerhebliche Teile der radikalen Linken der 70er Jahre in Deutschland, unter deren Oberfläche ein immer wieder heftig aufflammender Antisemitismus brodelte.

 

Wichtiger als die nächste Demonstration auf der Straße ist mir längst, deutlich zu machen, dass unser Wohlergehen im Herzen Europas von Spielregeln abhängt, die unser Rechtsstaat vorgibt – und ganz besonders unser Grundgesetz.

Wichtiger also ist mir, diese Spielregeln auch in Gesprächen zu verteidigen, in denen sich einfache Wahrheiten schon mal mit rabiaten Lösungen und immer gerne mit kraftvollen Verwünschungen vermischen.

Um es mal an einem Beispiel konkret zu machen: Ich kann und will von niemandem bereits „an der Haustür“ verlangen, dass er oder sie die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung vom Spätsommer 2015 gut findet.

Ich selbst fand sie in der konkreten Situation aus einer Reihe von Gründen vertretbar und richtig, aber ich kenne auch in der eigenen Partei viele, die das anders sehen. Und ich verdamme sie ja deswegen nicht!

Aber es ist und bleibt kriminell und strafwürdig, wenn jemand Flüchtlinge angreift und womöglich sogar danach trachtet, ihre Unterkünfte zu zerstören; und dann obendrein auch noch meint, sich auf ein wie auch immer zurecht gezimmertes Recht darauf berufen zu können.

Da bin ich auch wirklich froh, wenn unsere Gerichte inzwischen mit der nötigen Konsequenz auf solche Vergehen antworten.

Ich verlange von niemandem, dass er mit mir einer Meinung ist in wesentlichen politischen oder gesellschaftlichen Fragen.  Aber ich erwarte, dass wir strittige Fragen mit einem Mindestmaß an Anstand austragen.

Allerdings muss ich in diesem Zusammenhang dann auch sagen:

Nichts rechtfertigt sich allein durch eine besonders moralgesättigte Abscheu. Die Mühe müssen wir uns immer wieder machen, unsere Haltung durchzubuchstabieren und gut zu begründen.

Das erwarte ich im Umgang mit mir und „den Meinen“. Aber auch im Umgang „der Meinen“ mit denen, die anderer Meinung sind.

Rosa Luxemburgs viel zitierter Satz, wonach Freiheit immer auch die Freiheit des Andersdenkenden sei, wurde zwar aus dem historischen Zusammenhang gerissen. (Erläuterung: Er bezog sich auf die Bolschewiki, die schon kurz nach der Revolution auch mit parteiinternen „Säuberungen“ begannen.)

Ich würde ihn mir aber gerade in dieser Zusammenhangslosigkeit viel lieber zu eigen machen – nämlich ganz grundsätzlich!

Dann wäre diese Freiheit der Andersdenkenden ein großer Schritt in Richtung einer gedeihlichen Kultur des Zusammenlebens.

 

Selbst-Anmaßungen reiner Tugendhaftigkeit haben nie weit geführt, es sei denn ins Verderben.

Schon bei Blaise Pascal, einem universalgelehrten Theologen des 17. Jahrhunderts und Zeitgenossen des Dreißigjährigen Krieges finden wir den Satz: „Die Menschen tun Böses nie so vollständig und freudig, wie wenn sie es aus religiösen Gründen tun.“

Diese Aussage muss man wirken lassen. Und ihn dann in unser säkulares Zeitalter übersetzen, in dem inquisitorische Religionen durch nicht minder gefährliche, ja mörderische Ideologien abgelöst wurden.

 

„Wer verallgemeinert, ist ein Idiot.“ meinte der Dichter William Blake. Wie sich dies vom Unsinn zum ausgemachten Menschheits-Verbrechen entwickelte, dafür ist der Nationalsozialismus das vermutlich treffendste Beispiel.

Wer Feindbilder pflegt, der tut dies, weil ihm die Fähigkeit oder die Bereitschaft zur überzeugenden Argumentation fehlt.

Das ist es, was wir niemandem durchgehen lassen dürfen.

Auch uns selber nicht.

Schon weil wir nicht wissen können, was wir in dieser Zeit getan hätten.

Und weil nur ein Rest an Zweifel, den wir uns immer erhalten sollten, – Zweifel auch und gerade an uns selber! – uns davor bewahren kann, allzu selbstgewiss das Falsche zu tun.